«Sprechen Sie kein Deutsch?» Cemile verwirft die Hände. Um ehrlich zu sein, sie weiss es nicht. Eigentlich – so hat sie bis jetzt gedacht – geht es nicht schlecht. Mit den Nachbarinnen wechselt sie oft ein paar Worte im Lift. Sie hat sich auch schon für ihre Rechte in der Waschküche gewehrt – ganz allein und alles auf Deutsch. Sie spricht mit der Kindergärtnerin, mit den Leiterinnen in der Krippe. Auch mit den Kunden ihres Mannes oder vorher bei der Firma mit den Kolleginnen in den Arbeitspausen. Aber jetzt ist sie nicht mehr sicher. Dieses Formular. Es will und will ihr einfach nicht in den Kopf.
Die Arbeitsvermittlerin schaut mitleidig: Ob sie denn die Sprache ihrer neuen Heimat nicht besser lernen wolle. Doch, doch. Natürlich. Schon. Nur bleibt wenig Zeit neben der Arbeit. Und da ist noch der Haushalt, der Einkauf, die Wäsche, die Kinder, der Mann. Und auch die Sehnsucht. Nach Zuhause. Nach dem Dorf an der Küste. Das Haus ihrer Mutter. Der Kopf ist voll und der Blick schweift jeweils vom Wörterbuch bald aus dem Fenster. Der Himmel über dieser Stadt ist nie wirklich blau. Er erscheint der jungen Frau oft kraftlos und bleich und eng. Manchmal auch schwer. Aber darüber spricht Cemile zu niemandem. Nur ihre Schwester weiss davon. Mit ihr trifft sie sich jedes Wochenende. Die Schwester wohnt in Basel, Cemiles Familie fährt jeweils mit dem Auto hin. Zwei Stunden dauert ein Weg.
Deutsch wird bei diesen Treffen nicht gesprochen. Aber man hilft sich gegenseitig. Der Schwager lebt schon länger hier, er weiss Bescheid und beherrscht die fremde Sprache am Besten von allen. Als ihr vor ein paar Monaten gekündigt wurde, weil die Firma sparen müsse und deshalb Stellen abgebaut würden, hat er Cemile erklärt, was zu tun war. Gemeinsam haben sie das Formular für die Versicherung ausgefüllt. Er hat ihr gezeigt, wo sie jeweils die Kreuze setzen muss auf dem Arbeitsamt. Besonders wichtig war der Punkt mit der Kinderzulage. Weil ihr Mann selbständig arbeitet, hat Cemile Anrecht darauf – Kinderzulage also ‚Ja’. Cemile hat genau aufgepasst. Sie hat sich sogar eine Notiz gemacht, einen Spickzettel, gewissermassen, den sie nun sorgfältig in ihrer Handtasche aufbewahrt. So muss das Muster auf dem Blatt ausssehen: Ein Kreuz links, eines rechts. Links, links, rechts, links.
Doch jetzt will die Frau von der Vermittlung, dass sie in Zukunft das Kreuz bei der Frage zur Kinderzulage unter ‚Nein’ setze. Dabei sind die drei Kinder, zwei Buben und eine Tochter, klein und abhängig: gehen in die Krippe und in den Kindergarten, während sie dem Mann in seinem Kebabstand aushilft und nach einer neuen Stelle Ausschau hält. Service, Putzen – Cemile würde ja alles tun. Am liebsten wäre ihr eine Arbeit im Spital oder in einem Pflegeheim. Wenn sie bloss eine Ausbildung machen könnte. Dafür müsste sie allerdings zuerst besser Deutsch lernen. Und solche Kurse sind teuer. Cemile hat sich informiert. Der Familie fehlt das Geld. Ende Monat bleibt nie etwas übrig, im Gegenteil – eigentlich reichen die Einkünfte nicht. Eigentlich sind sie gleichweit wie zuvor in der Heimat: „Zuwenig um zu leben, zuviel um zu sterben“.
Natürlich könnte sie auf der Gemeinde um Hilfe zu bitten. Doch Cemile will sich den Gang zum Sozialamt ersparen, solange es irgend geht. Mit der Frau dort versteht sie sich nämlich nicht. Einmal, früher, war sie mit ihrem Mann da. „Sie brauchen kein Auto“, hat die Frau gesagt und sich über die hohe Telefonrechnung beschwert. Doch ohne Auto kann Cemile ihre Schwester in Basel nicht besuchen. Und die langen Gespräche am Telefon mit der Mutter in der Türkei: Sie sind lebenswichtig. Deshalb muss das mit der Kinderzulage klappen. Unbedingt.
Cemile nimmt alle Kraft zusammen, ihr Blick wird kämpferisch: Warum Kinderzulage ‚nein’? Warum? – Die Arbeitsvermittlerin bleibt ruhig, liest ihr nochmals vor, was da steht: „Hat sich in Bezug auf Ihre Ansprüche betreffend Kinderzulage im vergangenen Monat eine Änderung ergeben?“ Es hat sich nicht – also wird ‚Nein’ geschrieben. Cemile schaut ungläubig. Die Frau lächelt nachsichtig. Es klingt kompliziert, sie weiss es. Aber Cemile könne beruhigt sein. Das Geld komme. Ganz bestimmt.
Cemile ist nicht beruhigt. Wem soll sie glauben? Dem Schwager, der Vermittlerin? Sie braucht das Geld. Jeder Franken zählt. Soviel verdient der Mann nicht. Und die Miete ist hoch. Die Krankenkasse auch. Alles kostet. Angst macht krank. Wenn Cemile nachts nicht schlafen kann, rechnet sie manchmal bis ihr der Kopf schmerzt. Sie kauft doch ein, wo es billig ist und gönnt sich kaum ein neues Kleid. Natürlich ist das Auto teuer. Auch die Krippe kostet. Aber ohne geht es nicht. Das sagt die Vermittlerin, hat auch der Schwager bestätigt. Wenn sie sich die Zeit nicht freihält, gilt sie als nicht vermittelbar und ihre Ansprüche auf Unterstützung während der Arbeitssuche fallen dahin. Es ist ein Teufelskreis. Viele Teufelskreise: Die Sprache, die Zeit, das Geld, die Kraft.
„Hat sich in Bezug auf Ihre Ansprüche betreffend Kinderzulage im vergangenen Monat…“ Was für Worte. Sie tönen feindselig und abweisend. Nein, Cemile kann kein Deutsch. Heute nicht.
(22.01.2016)
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